Pressekonferenz 2025 — Erkrankungen des Nervensystems zählen weltweit zu den häufigsten Gesundheitsproblemen. In Europa und in Deutschland sind fast 60 % der Bevölkerung von einer neurologischen Erkrankung betroffen [1]. Unter anderem aufgrund des demografischen Wandels nehmen Diagnosen wie Schlaganfall, Parkinson und Epilepsie weiter zu. Doch gleichzeitig macht die Forschung vielversprechende Fortschritte. Moderne neurophysiologische Methoden, fortschrittliche Bildgebungsverfahren und der Einsatz künstlicher Intelligenz ermöglichen präzisere Diagnosen und innovative Therapieansätze. Wie neue Therapien schon heute die Lebensqualität von Betroffenen verbessern und welche Fortschritte in Zukunft zu erwarten sind, zeigt Prof. Christian Grefkes-Hermann, Direktor der Klinik für Neurologie der Universitätsmedizin Frankfurt, auf dem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Klinische Neurophysiologie und Funktionelle Bildgebung (DGKN).
Time is Brain – beachtliche Erfolge in der akuten Schlaganfalltherapie
In Deutschland erleiden pro Jahr ca. 270.000 Menschen einen Schlaganfall, der sowohl ihre Selbständigkeit als auch ihre Lebensqualität erheblich einschränkt. Die Möglichkeiten der Therapie nach einem Gefäßverschluss im Gehirn oder einer Hirnblutung – beides ein möglicher Auslöser für einen Schlaganfall – haben sich jedoch deutlich verbessert. Für die akute Therapie gilt „Time is Brain“ – im Vordergrund steht die schnelle Wiederherstellung einer ausreichenden Durchblutung der betroffenen Areale. Ein Meilenstein in der akuten Behandlung ist die Erweiterung des Zeitfensters für die Katheterbehandlung (Thrombektomie). Studien haben gezeigt, dass Patientinnen und Patienten mit einem Verschluss großer hirnversorgender Gefäße sogar bis zu 24 Stunden nach dem Ereignis von dieser Behandlung profitieren können [2-4]. Die Thrombektomie zeigt auch bei schweren Schlaganfällen Erfolg, bei knapp 20 % der Patientinnen und Patienten konnte Tod oder Pflegebedürftigkeit verhindert werden [5].
Die medikamentöse Schlaganfalltherapie hat ebenfalls deutliche Fortschritte gemacht: Das Thrombolytikum Tenecteplase hat in vielen deutschen Schlaganfallzentren den Einsatz des bisherigen, seit fast 30 Jahren eingesetzten Medikaments Alteplase abgelöst. Es vereinfacht aufgrund der deutlich kürzeren Applikationsdauer (Bolusgabe anstatt einstündiger Infusion) bei gleicher Wirkung die Abläufe in der akuten Schlaganfalltherapie deutlich, auch was Transfers zwischen Krankenhäusern für weitere Therapien wie Thrombektomie betrifft [6].
Gerade in Deutschland hat die akute Schlaganfalltherapie große Fortschritte gemacht, nicht zuletzt durch die flächendeckende Etablierung und Zertifizierung von Stroke Units. Obwohl die Zahl der Patientinnen und Patienten mit Schlaganfall um 25 % gestiegen ist, hat sich die Krankheitslast für die einzelnen Betroffenen, gemessen an den durch Mortalität verlorenen Jahren und den Jahren mit krankheitsbedingt verminderter Lebensqualität (DALYs, „disability-adjusted life-years“) um 54 % reduziert [1]. „Das ist ein sehr beachtlicher Erfolg“, sagt Prof. Grefkes-Hermann.
Zurück ins Leben: Moderne Rehabilitation nach Schlaganfall
Neben der Akuttherapie werden zunehmend postakute Therapien entwickelt, die die Regeneration nach einem Schlaganfall signifikant verbessern können. Die neuronale Reorganisation gilt als entscheidender Faktor für die funktionelle Erholung. Prof. Grefkes-Hermann erforscht mit seiner Arbeitsgruppe seit über 15 Jahren systematisch innovative Methoden zur Reduktion von durch Schlaganfall bedingten Behinderungen. „Die Kombination von bildgebenden Verfahren und transkranieller Magnetstimulation (TMS) hat sehr vielversprechende Ergebnisse bei der Reorganisation neuronaler Netzwerke gezeigt“, so der Experte. Die funktionelle Bildgebung mittels MRT oder Elektroenzephalografie (EEG) macht die Hirnareale sichtbar, die am meisten von einer TMS profitieren [7,8]. Moderne Bildgebungsverfahren und Konnektivitätsanalysen ermöglichen es, die Anpassungsprozesse des Gehirns nach einem Schlaganfall zu untersuchen und zu verstehen, warum manche Betroffene sich besser erholen als andere. So können Behandlungsmethoden individuell optimiert werden [9]. Die Nutzung künstlicher Intelligenz (KI) trägt ebenfalls zu einer präziseren, personalisierten Therapie bei: KI-Algorithmen können anhand von Patientendaten den individuellen Verlauf eines Schlaganfalls vorhersagen und Faktoren identifizieren, die eine schnelle Regeneration oder einen komplizierten Verlauf begünstigen. Die Kombination von KI mit neurophysiologischen Daten und Neuroimaging verspricht einen bedeutenden Fortschritt in Richtung Präzisionsmedizin.
Fortschritte bei neurodegenerativen Erkrankungen
Bei der Amyotrophen Lateralsklerose (ALS), einer bisher unheilbaren Erkrankung des motorischen Nervensystems, gibt es neue Hoffnung durch eine neue Behandlungsstrategie, die am Immunsystem ansetzt. Eine klinische Studie am Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) untersucht, ob Rituximab, ein Medikament aus der Immuntherapie, das Fortschreiten der ALS verlangsamen kann. Ein weiterer Durchbruch in der ALS-Behandlung ist die Entwicklung von Tofersen, einem Antisense-Oligonukleotid, das im April 2023 von der FDA und im Februar 2024 von der europäischen Arzneimittelbehörde die Zulassung erhalten hat. Tofersen wirkt durch Gen-Silencing, indem es die SOD1-mRNA abbaut und so die SOD1-Proteinsynthese unterdrückt [10]. Obwohl aktuell nur ein kleiner Teil der ALS-Betroffenen mit der nachgewiesenen SOD1-Gen-Mutation für eine Tofersen-Therapie in Frage kommt, zeigt diese innovative Therapie das Potenzial gezielter genetischer Interventionen bei neurodegenerativen Erkrankungen.
Eine weitere von der Europäischen Arzneimittelbehörde im Jahr 2024 zugelassene Substanz ist Lecanemab, welche für die Therapie von Frühformen der Alzheimer-Demenz eingesetzt werden kann [11]. Diese Antikörpertherapie entfernt Eiweiße aus dem Gehirn, welche für die Entstehung der Alzheimer-Erkrankung verantwortlich gemacht werden. Das als Infusion verabreichte Medikament stellt somit eine der ersten zugelassenen Therapien bei dieser sehr häufigen Demenzform dar und greift direkt in die Biologie der Krankheitsentwicklung ein, sodass das Voranschreiten verzögert werden kann. Aufgrund des Nebenwirkungsprofils, wie das Entstehen von Hirnschwellungen oder Mikroblutungen, müssen regelmäßig MRT- Untersuchungen durchgeführt werden.
„Der Fortschritt der neurowissenschaftlichen Forschung verbessert deutlich die Lebensqualität von Millionen von Patientinnen und Patienten. Die größte Herausforderung besteht auch in Zukunft darin, Innovationen effektiv in die klinische Praxis zu integrieren, damit möglichst viele Menschen von diesen fortschrittlichen Behandlungsmöglichkeiten profitieren“, sagt Prof. Grefkes-Hermann.
Literatur
[1] Deuschl G, Beghi E, Fazekas F et al. The burden of neurological diseases in Europe: an analysis for the Global Burden of Disease Study 2017. Lancet Public Health 2020; 5: e551–67
[2] Amrou Sarraj, Ameer E. Hassan, Michael G. Abraham, et al. Trial of Endovascular Thrombectomy for Large Ischemic Strokes. The New England Journal of Medicine. Published online April 06, 2023. DOI: 10.1056/NEJMoa2214403
[3] Olthuis SGH, Pirson FAV, Pinckaers FME et al. Endovascular treatment versus no endovascular treatment after 6-24 h in patients with ischaemic stroke and collateral flow on CT angiography (MR CLEAN-LATE) in the Netherlands: a multicentre, open-label, blinded-endpoint, randomized, controlled, phase 3 trial. Lancet 2023 March 29; S0140-6736 (23) 00575-5 DOI: 10.1016/S0140-6736(23)00575-5.
[4] Xiaochuan Huo, Gaoting Ma, Xu Tong, et al. Trial of Endovascular Therapy for Acute Ischemic Stroke with Large Infarct. The New England Journal of Medicine. Published online April 06, 2023. DOI: 10.1056/NEJMoa2213379
[5] Bendszus M, Fiehler J, Subtil F, et al. Endovascular thrombectomy for acute ischaemic stroke with established large infarct: multicentre, open-label, randomised trial. Lancet. 2023;402(10414):1753-1763. doi:10.1016/S0140-6736(23)02032-9
[6] Muir KW, Ford GA, Ford I, et al. Tenecteplase versus alteplase for acute stroke within 4·5 h of onset (ATTEST-2): a randomised, parallel group, open-label trial. Lancet Neurol. 2024;23(11):1087-1096. doi:10.1016/S1474-4422(24)00377-6
[7] Grefkes C, Fink GR. Recovery from stroke: current concepts and future perspectives. Neurol Res Pract. 2020;2:17. Published 2020 Jun 16. https://www.doi.org/10.1186/s42466-020-00060-6
[8] Tscherpel C, Dern S, Hensel L, Ziemann U, Fink GR, Grefkes C. Brain responsivity provides an individual readout for motor recovery after stroke. Brain. 2020;143(6):1873-1888. https://www.doi.org/10.1093/brain/awaa127
[9] Grefkes C, Fink GR. Connectivity-based approaches in stroke and recovery of function. Lancet Neurol. 2014 Feb; 13(2):206-16. https://www.doi.org/10.1016/S1474-4422(13)70264-3
[10] Meyer T, Schumann P, Weydt P, et al. Clinical and patient-reported outcomes and neurofilament response during tofersen treatment in SOD1-related ALS-A multicenter observational study over 18 months. Muscle Nerve. 2024;70(3):333-345. doi:10.1002/mus.28182
[11] van Dyck CH, Swanson CJ, Aisen P, et al. Lecanemab in Early Alzheimer's Disease. N Engl J Med. 2023;388(1):9-21. doi:10.1056/NEJMoa2212948
Kontakt zur Pressestelle der DGKN
Sandra Wilcken, c/o albertZWEI media GmbH, Tel.: +49 (0) 89 461486-11, E-Mail:
Hinweis für die Presse
Der DGKN-Kongress für Klinische Neurowissenschaften findet vom 12. bis 15. März 2025 in Frankfurt statt. Alle Informationen zum Programm und zur Registrierung gibt es auf www.kongress-dgkn.de. Journalistinnen und Journalisten können sich über das Kongressportal kostenlos für den DGKN-Kongress registrieren. Informationen zur Online-Pressekonferenz anlässlich des DGKN-Kongresses finden Sie hier: www.dgkn.de/dgkn/presse.
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Die Deutsche Gesellschaft für Klinische Neurophysiologie und Funktionelle Bildgebung (DGKN) e. V. vertritt die Interessen von Medizinerinnen und Medizinern sowie Forschenden, die auf dem Gebiet der klinischen und experimentellen Neurophysiologie tätig sind. Die wissenschaftlich-medizinische Fachgesellschaft mit über 4.400 Mitgliedern fördert die Erforschung von Gehirn und Nerven, sichert die Qualität von Diagnostik und Therapie neurologischer Krankheiten und treibt Innovationen auf diesem Gebiet voran. Sie ist aus der 1950 gegründeten „Deutschen EEG-Gesellschaft“ hervorgegangen. www.dgkn.de