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KI und mHealth: Die Zukunft der Neurophysiologie

Pressekonferenz 2025 — Die Neurowissenschaften stehen vor einem Paradigmenwechsel: Künstliche Intelligenz (KI), die Analyse großer Datenmengen (Big Data) und der Einsatz mobiler Gesundheitstechnologien (mHealth) eröffnen neue Perspektiven für die Diagnose und Therapie bislang unheilbarer neurologischer Erkrankungen. „Die Integration dieser Technologien in neurophysiologische Methoden bietet uns die Chance, neurologische Prozesse auf einer bisher unerreichten Detailebene zu untersuchen und zu verstehen“, sagt Prof. Simon Eickhoff auf dem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Klinische Neurophysiologie und Funktionelle Bildgebung (DGKN) e. V. in Frankfurt. „Das wird die klinischen Neurowissenschaften in den nächsten Jahren nicht nur disruptiv verändern, sondern vollständig transformieren.“ Entscheidend hierfür sei allerdings eine neue Herangehensweise der Forschung.

Das Gehirn ist das komplexeste Organ des Menschen – ein faszinierendes Netzwerk aus Milliarden von Neuronen, die unser Denken, Fühlen und Handeln steuern. Die klinische Neurophysiologie hat in den vergangenen Jahrzehnten mit hochpräzisen technischen Methoden und innovativer Bildgebung maßgeblich dazu beigetragen, die Funktionsweise von Gehirn und Nerven zu entschlüsseln. Sie konnte moderne Therapien für unheilbare neurologische Erkrankungen wie Parkinson, Demenz, Epilepsie oder Multiple Sklerose entwickeln.

Funktionelle Bildgebung: Einblicke ins lebende Gehirn

Die erste Revolution der Neurophysiologie fand in den späten 1980ern und frühen 1990er Jahren statt [1-4]: Mit der Entwicklung der funktionellen Positionen-Emissions-Tomographie (PET) und der funktionellen Magnetresonanztomographie (fMRT) konnten Forschende erstmals kognitive, affektive und motorische Prozesse sowie deren Störungen bei neurologischen oder psychiatrischen Patienten im lebenden Gehirn lokalisieren. „Die Einführung der funktionellen Bildgebung hat das Feld der humanen Neurowissenschaften revolutioniert und unser Verständnis des menschlichen Gehirns fundamental verändert“, sagt Prof. Eickhoff, Leiter des Instituts für Systemische Neurowissenschaften der Universität Düsseldorf und Direktor des Instituts für Neurowissenschaften und Medizin am Forschungszentrum Jülich.

Vor etwa 15-20 Jahren wurde die Forschung auf die Untersuchung verschiedener Arten von Konnektivität und Netzwerkarchitektur im Gehirn erweitert [5-7]. Doch die klinische Anwendung und damit praktische Relevanz der bedeutenden Erkenntnisse blieb hinter den Erwartungen zurück. „Das liegt hauptsächlich an der erheblichen interindividuellen Varianz, durch die nur auf Gruppenebene robuste Ergebnisse gefunden werden“, so Prof. Eickhoff.

Think Big: KI-Revolution in den Neurowissenschaften

Der zweite große Paradigmenwechsel adressierte diese kritische Schwäche bisheriger Ansätze: die fehlende individuelle Aussagekraft. Statt kleine Probandengruppen mit klassischer Statistik zu untersuchen, werden seit etwa zehn Jahren Machine-Learning-Modelle an sehr großen Kohorten trainiert und an unabhängigen Daten evaluiert [8-10]. Dieser Ansatz ermöglicht erstmals, präzise Aussagen über neue Individuen mittels gelernter Algorithmen zu treffen. Über das Training von KI-Modellen an großen Kollektiven besteht nun zum ersten Mal eine klare Perspektive für die Anwendung in der Praxis, erklärt Prof. Eickhoff: „Der Einsatz von KI in der Neurophysiologie eröffnet völlig neue Möglichkeiten für personalisierte Diagnostik und Therapie. Wir können Muster erkennen, die für das menschliche Auge unsichtbar sind.“

mHealth: Langfristige Datenerhebung im Alltag

Während diese Entwicklungen noch im Gange sind, zeichnet sich bereits die nächste Revolution ab. Statt auf teure, große und nur in Kliniken verfügbare bildgebende Geräte angewiesen zu sein, können umfangreiche Daten über Wearables wie Smartphones, Smartwatches oder Fitnesstracker gesammelt werden [11]. „Diese Geräte bieten den unschätzbaren Vorteil, Verhalten und Störungen im realen Alltagsleben zu erfassen und ermöglichen robuste Einschätzungen auf Basis langfristiger, engmaschiger Datenerhebung“, erklärt Prof. Eickhoff.

Die Zukunft der Neurophysiologie und Hirnforschung

Die Synergie aus Big Data, KI und mobilen Gesundheitstechnologien hat das Potenzial, das Verständnis des menschlichen Gehirns zu vertiefen, die Früherkennung, Diagnose und Behandlung neurologischer und psychiatrischer Erkrankungen grundlegend zu verändern und personalisierte Therapieansätze zu ermöglichen. Die neue Ausrichtung der Hirnforschung erfordert aus Sicht von Prof. Eickhoff jedoch eine grundlegend andere Herangehensweise und substanzielle Umorientierung der traditionellen neurophysiologischen Forschung. Neben Weiterbildung im Hochdurchsatzrechnen und Maschinellem Lernen [12,13] sind große, öffentliche oder geteilte Datensätze, ein robustes Forschungsdatenmanagement und die Reproduzierbarkeit von programmatischen statt händischen Analysen unabdingbar [14,15].

„Die neue Ära der Neurowissenschaften bietet große Herausforderungen, aber auch enorme Chancen. Wir müssen unsere Infrastruktur anpassen, um sie optimal zu nutzen. Insbesondere in der von Klinikern dominierten deutschen Forschungslandschaft besteht hier erheblicher Entwicklungsbedarf“, ist Prof. Eickhoff überzeugt.

Literatur

[1] Fox PT, Raichle ME. Focal physiological uncoupling of cerebral blood flow and oxidative metabolism during somatosensory stimulation in human subjects. Proc Natl Acad Sci U S A. 1986;83(4):1140-1144. doi:10.1073/pnas.83.4.1140

[2] Bandettini PA, Wong EC, Hinks RS, Tikofsky RS, Hyde JS. Time course EPI of human brain function during task activation. Magn Reson Med. 1992;25(2):390-397. doi:10.1002/mrm.1910250220

[3] Fink GR, Halligan PW, Marshall JC, Frith CD, Frackowiak RS, Dolan RJ. Where in the brain does visual attention select the forest and the trees?. Nature. 1996;382(6592):626-628. doi:10.1038/382626a0

[4] Duffau H, Tzourio N, Caparros-Lefebvre D, Parker F, Mazoyer B. Tremor and voluntary repetitive movement in Parkinson's disease: comparison before and after L-dopa with positron emission tomography. Exp Brain Res. 1996;107(3):453-462. doi:10.1007/BF00230425

[5] Büchel C, Raedler T, Sommer M, Sach M, Weiller C, Koch MA. White matter asymmetry in the human brain: a diffusion tensor MRI study. Cereb Cortex. 2004;14(9):945-951. doi:10.1093/cercor/bhh055

[6] Sorg C, Riedl V, Mühlau M, et al. Selective changes of resting-state networks in individuals at risk for Alzheimer's disease. Proc Natl Acad Sci U S A. 2007;104(47):18760-18765. doi:10.1073/pnas.0708803104

[7] Eickhoff SB, Grefkes C. Approaches for the integrated analysis of structure, function and connectivity of the human brain. Clin EEG Neurosci. 2011;42(2):107-121. doi:10.1177/155005941104200211

[8] Chen J, Patil KR, Yeo BTT, Eickhoff SB. Leveraging Machine Learning for Gaining Neurobiological and Nosological Insights in Psychiatric Research. Biol Psychiatry. 2023;93(1):18-28. doi:10.1016/j.biopsych.2022.07.025

[9] Eickhoff SB, Heinrichs B. Der vorhersagbare Mensch : Chancen und Risiken der KI-basierten Prädiktion von kognitiven Fähigkeiten, Persönlichkeitsmerkmalen und psychischen Erkrankungen [The predictable human : Possibilities and risks of AI-based prediction of cognitive abilities, personality traits and mental illnesses]. Nervenarzt. 2021;92(11):1140-1148. doi:10.1007/s00115-021-01197-8

[10] Wu J, Li J, Eickhoff SB, Scheinost D, Genon S. The challenges and prospects of brain-based prediction of behaviour. Nat Hum Behav. 2023;7(8):1255-1264. doi:10.1038/s41562-023-01670-1

[11] Lahnakoski JM, Eickhoff SB, Dukart J, Schilbach L. Naturalizing psychopathology-towards a quantitative real-world psychiatry. Mol Psychiatry. 2022;27(2):781-783. doi:10.1038/s41380-021-01322-8

[12] Hamdan S, Love BC, von Polier GG, et al. Confound-leakage: confound removal in machine learning leads to leakage. Gigascience. 2022;12:giad071. doi:10.1093/gigascience/giad071

[13] Szczepanik M, Wagner AS, Heunis S, Waite LK, Eickhoff SB, Hanke M. Teaching Research Data Management with DataLad: A Multi-year, Multi-domain Effort. Neuroinformatics. 2024;22(4):635-645. doi:10.1007/s12021-024-09665-7

[14] Wagner AS, Waite LK, Wierzba M, et al. FAIRly big: A framework for computationally reproducible processing of large-scale data. Sci Data. 2022;9(1):80. Published 2022 Mar 11. doi:10.1038/s41597-022-01163-2

[15] Nichols TE, Das S, Eickhoff SB, et al. Best practices in data analysis and sharing in neuroimaging using MRI. Nat Neurosci. 2017;20(3):299-303. doi:10.1038/nn.4500

 

Kontakt zur Pressestelle der DGKN

Sandra Wilcken, c/o albertZWEI media GmbH, Tel.: +49 (0) 89 461486-11, E-Mail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein.

Hinweis für die Presse

Der DGKN-Kongress für Klinische Neurowissenschaften findet vom 12. bis 15. März 2025 in Frankfurt statt. Alle Informationen zum Programm und zur Registrierung gibt es auf www.kongress-dgkn.de. Journalistinnen und Journalisten können sich über das Kongressportal kostenlos für den DGKN-Kongress registrieren. Informationen zur Online-Pressekonferenz anlässlich des DGKN-Kongresses finden Sie hier: www.dgkn.de/dgkn/presse.

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Die Deutsche Gesellschaft für Klinische Neurophysiologie und Funktionelle Bildgebung (DGKN) e. V. vertritt die Interessen von Medizinerinnen und Medizinern sowie Forschenden, die auf dem Gebiet der klinischen und experimentellen Neurophysiologie tätig sind. Die wissenschaftlich-medizinische Fachgesellschaft mit über 4.400 Mitgliedern fördert die Erforschung von Gehirn und Nerven, sichert die Qualität von Diagnostik und Therapie neurologischer Krankheiten und treibt Innovationen auf diesem Gebiet voran. Sie ist aus der 1950 gegründeten „Deutschen EEG-Gesellschaft“ hervorgegangen. www.dgkn.de