Der Kongress der Deutschen Gesellschaft für Klinische Neurophysiologie und Funktionelle Bildgebung (DGKN) im März 2022 in Würzburg trägt erstmals den Untertitel „Kongress für Klinische Neurowissenschaften“. Damit möchte der Präsident der DGKN und Kongresspräsident Prof. Dr. med. Jens Volkmann, Direktor der Neurologischen Klinik am Universitätsklinikum Würzburg, den Wandel von einer historischen Methodengesellschaft zu einer modernen klinisch-neurowissenschaftlichen Fachgesellschaft bekräftigen. „Die DGKN hat die Chancen erkannt, die im technischen und digitalen Fortschritt und in einer engen interdisziplinären Kooperation von Neurowissenschaften, technischen Disziplinen und Informationswissenschaften liegen, um Gehirn-Netzwerk-Erkrankungen zu verstehen sowie gezielt und bedarfsgerecht zu behandeln. Wir stehen an der Schwelle zu einem neuen Zeitalter der Neurotechnologie“, erklärte Prof. Volkmann. Als wissenschaftlich-medizinische Fachgesellschaft fördert die DGKN die Erforschung von Gehirn und Nerven, sichert die Qualität von Diagnostik und Therapie neurologischer Krankheiten und treibt Innovationen auf diesem Gebiet voran. Der diesjährige Kongress öffnet sich daher bewusst einem interdisziplinären Publikum.
Gehirn-Netzwerk-Störungen verstehen und behandeln
Schwerpunkt auf dem DGKN-Kongress 2022 ist die Entschlüsselung und Behandlung wichtiger Netzwerke im Gehirn. Denn die Symptome vieler neurologischer oder psychiatrischer Erkrankungen entstehen durch gestörte Aktivitäten von Gehirnnetzwerken. „Diese komplexen Netzwerke sind einfachen pharmakologischen Therapien nicht zugänglich. Das erklärt auch die Barriere in der Behandlung vieler Gehirnerkrankungen“, erklärt Prof. Volkmann. Die aktuelle neurowissenschaftliche Forschung zielt darauf ab, Symptommuster von neurologischen Erkrankungen zentralen Netzwerkverbindungen, Regelkreisen und Funktionen im Gehirn zuzuordnen. Die Auswertung dieser Datensätze kann das Spektrum der Therapieoptionen erheblich erweitern. „Mit Elektroden und fokaler elektrischer Stimulation können wir erkannte krankheitsbedingte Muster im Gehirn gezielt modulieren. Um hier echte Fortschritte zu erreichen, müssen sich Forschung und Implantatindustrie eng vernetzen“, sagte Prof. Volkmann.
Tiefe Hirnstimulation als Beispiel für Innovation
Ein seit 25 Jahren vor allem bei der Parkinson-Krankheit etabliertes, technologisch einfaches Brain-Computer-Interface (BCI), mit dem kleinste funktionelle Regionen im Gehirn gezielt elektrisch stimuliert werden können, ist die Tiefe Hirnstimulation (THS). Sie liefert eindrucksvolle Beispiele für den klinischen Erfolg bei Bewegungsstörungen und psychiatrischen Erkrankungen. Mit neuer Technik wird die THS auch bidirektional genutzt, um mittels Messung lokaler Feldpotenziale (LFP) Informationen über Zustände des Gehirns auszulesen. Dies ermöglicht eine adaptive, also Feedback-kontrollierte Stimulation. Ein langfristig angelegtes Forschungsprojekt in diesem Bereich ist der Sonderforschungsbereich RETUNE, eine Kooperation der Universitätskliniken in Berlin und Würzburg. Entsprechende Geräte für eine solche adaptive Tiefe Hirnstimulation sind bereits in der klinischen Prüfung.
PatientInnen „spenden“ ihre Daten für adaptive Neurostimulation
„Ein großes Problem in der Entwicklung dieser adaptiven Neurostimulationssysteme ist die Tatsache, dass zunächst die Biomarker identifiziert werden müssen, die symptomatische Zustände der Patientinnen und Patienten widerspiegeln, um dann Kontrollalgorithmen zu generieren und passende Stimulationsparameter auswählen zu können“, gab Prof. Volkmann zu bedenken. Ein Beispiel für solche Biomarker sind synchrone, oszillatorische Signale im Beta-Frequenzbereich um 20 Hertz bei Menschen mit Parkinson: Je ausgeprägter die Beta-Aktivität vorliegt, umso stärker ist die motorische Beeinträchtigung durch Bradykinese und Rigor. Um die passenden Biomarker zu identifizieren, sind allerdings große Datenpools erforderlich, die, ähnlich wie bei der Entwicklung der Spracherkennung auf dem Smartphone, voraussetzen, dass PatientInnen ihre Daten „spenden“, ohne unmittelbar von der Anwendung zu profitieren. „Wissenschaft und Industrie müssen eng kooperieren, weil einerseits die Datengewinnung nur über Medizinprodukte möglich ist und andererseits die Industrie selbst keinen Zugang zu Patientinnen und Patienten oder Daten hat“, erklärte Prof. Volkmann.
Translationale Forschungsaktivitäten anregen
Prof. Volkmann erwartet in den kommenden Jahren die rasant wachsende Weiterentwicklung und Anwendung von Hirn-Computer-Schnittstellen in der Neuromedizin. Neueste Entwicklungen und zukunftsweisende Trends der THS werden unmittelbar vor dem DGKN-Kongress auf dem „2nd Expert Summit on the Future of Deep Brain Stimulation“ diskutiert, der ebenfalls in Würzburg stattfindet. Dabei werden unter anderem neue Erkenntnisse zu den Pathophysiologien verschiedener Erkrankungen und Symptome, wie beispielsweise Depressionen, Suchterkrankungen, Bewegungs- und Wahrnehmungsstörungen sowie Kognitionsdefizite, und deren Neuromodulationsmöglichkeiten zur adaptiven THS diskutiert, die Ideen zu translationalen Forschungsaktivitäten anregen werden. Neue Entwicklungen im Bereich adaptive THS werden derzeit auch von der Deutschen Forschungsgemeinschaft DFG gefördert. „Der langfristig angelegte Sonderforschungsbereich RETUNE wurde als Kooperation der Universitätskliniken in Berlin und Würzburg über einen Zeitraum von vier Jahren mit insgesamt 12 Millionen Euro an Forschungsgeldern ausgestattet“, ergänzte Prof. Volkmann.
Interdisziplinäre Wissenschaftscommunity aufbauen
Die Zukunft der klinischen Neurophysiologie wird durch Digitalisierung, den Einsatz von künstlicher Intelligenz und moderner molekularbiologischer Techniken geprägt. „Die Entwicklungen haben das Potenzial, die Neuromedizin im 21. Jahrhundert grundlegend zu revolutionieren“, so die Einschätzung von Prof. Volkmann. Der neu konzipierte DGKN-Kongress soll den Austausch aller beteiligten Gruppen fördern. „Wir wollen eine dynamische Wissenschaftscommunity zwischen Neurophysiologie, molekularen und systemischen Neurowissenschaften, Ingenieurwissenschaften, Biomedizin, Informationstechnologie und klinischer Medizin aufbauen, die sich gegenseitig stärkt.“ Der Kongress soll aber auch dafür genutzt werden, ÄrztInnen in der Anwendung neuer Verfahren zu schulen und fortzubilden, z. B. für Muskel- und Nervensonographie oder beim Einsatz von künstlicher Intelligenz, um diese Verfahren als Routinediagnostik zu etablieren.